Als David Cameron am 23. Januar 2013 verkündete, die Briten über einen Austritt aus der EU abstimmen zu lassen, ging es ihm aus Sicht vieler britischer Kommentatoren vor allem um eines: den immer lauter werdenden EU-Skeptikern in der eigenen Partei den Wind aus den Segeln zu nehmen und die eigene Macht zu erhalten. "Wir haben dieses Referendum vor allem wegen der Spannungen innerhalb der
Fast dreieinhalb Jahre später und nur wenige Wochen vor dem "Brexit"-Referendum am 23. Juni scheint Cameron von diesem Ziel weit entfernt zu sein. Während sich der Premier selbst vehement für einen Verbleib Großbritanniens in der EU einsetzt, haben mehrere Regierungsmitglieder und andere prominente Vertreter seiner eigenen Partei für den Brexit mobil gemacht. "Wir sehen wieder einmal, dass die Ankündigung eines Referendums Parteien einen kann, während das Abhalten eines solchen diese zerreißen kann. Eine derart offen gespaltene Regierung wird in der Zukunft viel schwieriger zu führen sein", meinte die linksliberale Tageszeitung The Guardian.
Nicht nur viele von Camerons Parteifreunden, vor allem auch die großteils rechten und konservativen britischen Medien haben in den vergangenen Monaten aus allen Rohren auf die EU geschossen. "Angesichts der extremen Einseitigkeit [der Medienberichterstattung] in den vergangenen Jahren ist es ein Wunder, dass es noch einen einzigen Leser von The Sun, The Star oder The Daily Express gibt, der kein überzeugter Austritts-Befürworter ist", schrieb die linksliberale The Irish Times.
Den meisten Umfragen zufolge zeichnete sich ein Monat vor dem Referendum ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen britischen EU-Gegnern und EU-Befürwortern ab. Besonders heftig umstritten war das Thema Zuwanderung. Viele britische EU-Kritiker stören sich am unbeschränkten Zuzug aus anderen EU-Staaten. Die Einwanderung Hunderttausender EU-Bürger aus osteuropäischen Staaten in den vergangenen Jahren habe die britischen Sozialsysteme zu stark belastet. Die EU-Staaten müssten wieder die Kontrolle über ihre Grenzen zurückgewinnen, forderte die konservative Daily Mail: "Die einzige Lösung ist eine Begrenzung des EU-Prinzips der Freizügigkeit."
Das forderte Premier Cameron von den EU-Partnern als Zugeständnis an Großbritannien vor dem Brexit-Referendum. Die anderen Staats- und Regierungschefs waren dazu jedoch nicht bereit. Doch sie kamen Cameron bei einem EU-Gipfel im Februar entgegen, indem sie ihm zugestanden, befristet die Sozialleistungen von EU-Ausländern kappen zu dürfen.
Laut EU-Befürwortern würde auch ein Brexit die unbeschränkte Zuwanderung aus der EU nicht stoppen. "Die Erfahrung von Norwegen und Island, beide Mitglieder des
Die EU-Befürworter verweisen vor allem auf die wirtschaftlichen Nachteile eines EU-Austritts für Großbritannien. Das britische Finanzministerium veröffentlichte im April eine Externer Link: Studie, der zufolge der Brexit jeden Briten auf Dauer umgerechnet 5.400 Euro pro Jahr kosten könnte. "Das Argument des Brexit-Lagers, dass das Vereinigte Königreich auch außerhalb der EU weiter vom unbegrenzten Zugang zum Binnenmarkt der 500 Millionen EU-Bürger profitieren kann, wird überzeugend widerlegt", lobte die niederländische linksliberale Tageszeitung De Volkskrant.
Die EU-Gegner ließen das nicht gelten: Der EU wäre schon aus eigenem wirtschaftlichen Interesse daran gelegen, den Handel mit Großbritannien nach einem Brexit möglichst barrierefrei zu gestalten. Außerdem würde ein Ende der "Bevormundung" durch Brüssel die britische Wirtschaft neu beleben. Die
Ebenso heftig umstritten ist die Frage, ob Großbritannien innerhalb oder außerhalb der EU mehr Gewicht auf globaler Ebene hat. "Bei sicherheitsrelevanten Themen wie Terrorismus, Geldwäsche, Migration hat Großbritannien als führendes EU-Mitglied mehr Einfluss", erklärte die wirtschaftsliberale Financial Times. Ähnlich argumentierte US-Präsident Barack Obama, als er die Briten bei einem Besuch in London Ende April eindringlich dazu aufforderte, in der EU zu bleiben. Die EU verringere nicht den britischen Einfluss in der EU, sie vergrößere ihn, schrieb Obama in einem Gastbeitrag in der konservativen Tageszeitung The Daily Telegraph. Der Daily Mail gefiel das gar nicht: "Warum gesteht Obama nicht ein, dass die USA niemals einer Organisation wie der EU beitreten würden? Dass die freiheitsliebenden Amerikaner keine Sekunde lang die Verordnungen dulden würden, die Brüssel täglich ausspeit?"
Entscheidend für den Ausgang des Referendums könnte werden, ob die tendenziell wahlmüden jungen Briten ihre Stimme abgeben. Laut Umfragen sind sie im Gegensatz zu ihren älteren Landsleuten mehrheitlich pro-europäisch eingestellt. "Die Jungen nehmen den europäischen Status quo wie unkompliziertes Reisen und begrenzte Roaming-Gebühren als gegeben an", klagte die Financial Times. "Jugendliche Gleichgültigkeit könnte das Schicksal Großbritanniens in den Händen derer belassen, die noch immer in den Zeiten des britischen Weltreichs leben."
Tendenziell EU-freundlich sind laut Umfragen auch die
Nicht nur die Einheit Großbritanniens, auch der Fortbestand der EU wäre aus Sicht vieler Medien durch den Brexit gefährdet. "Am schlimmsten träfe er [der Brexit] Ostmitteleuropa, weil er in der Region eine Lawine lostreten könnte. Mehrere osteuropäische Länder haben bereits durchblicken lassen, dass auch sie aus der EU austreten könnten. Camerons Hasardspiel könnte zum Zerfall der gesamten Union führen", warnte die slowakische Zeitung Új Szó. Davon würde vor allem Moskau profitieren.
Der gemeinsame Markt habe Europa stark gemacht, meinte die liberale schwedische Zeitung Göteborgs-Posten: "Und den haben wir zu einem großen Teil den Briten zu verdanken." Die liberale polnische Zeitung Gazeta Wyborcza befürchtete eine wirtschaftliche und politische Schwächung der EU nach dem Brexit: "Sie würde sich noch stärker auf ihr Zentrum, die
Andere Medien sehen den Rest Europas als Gewinner des Brexit. "Die Briten blockieren ständig einen sozialeren Kurs, mit dem Europa seine Bürger zurückgewinnen könnte", klagte De Volkskrant. Das europäische Projekt sollte sich nicht auf die Briten, sondern auf seinen harten Kern konzentrieren, empfahl die linksliberale Libération in Frankreich: "Das Herz des Gemeinschaftsprojekts ist die Eurozone. Sie gilt es nun dringend zu integrieren und zu demokratisieren."
Selbst wenn die Briten am 23. Juni für den Brexit stimmen, würde das deren Loslösung von der EU noch nicht endgültig besiegeln, analysierte der Blog EUROPP der London School of Economics: "Das letztlich mit der EU ausgehandelte Brexit-Abkommen könnte für die Briten wirtschaftlich und politisch so nachteilig sein, dass sie selbst ein Bestätigungsreferendum fordern könnten."
David Cameron wäre bei einem solchen zweiten Brexit-Referendum nicht mehr Premier, da sind sich die meisten britischen Kommentatoren einig. Alles andere als ein klares Pro-EU-Votum der Briten werde ihn den Job als Premierminister kosten. Womit Cameron genau das Gegenteil von dem erreicht hätte, was er mit dem Referendum angestrebt hat.